Das Konzept der verschiedenen Anziehungen (auch Konzept der geteilten Anziehung oder eng. Split Attraction Model/SAM) beschreibt, dass es viele verschiedene Ebenen gibt, auf denen eine Person eine andere anziehend finden kann. Die Benennung unterschiedlicher Formen von Anziehung kann für manche Menschen hilfreich sein, um ihre Empfindungen und Bedürfnisse besser zu verstehen und klarer zu kommunizieren.
Die verschiedenen Formen der Anziehung können alle gemeinsam, einzeln, vermischt oder klar voneinander getrennt auftreten. Während manche Personen nur bestimmte Anziehungsarten empfinden und diese klar ausdifferenzieren können, gibt es wiederum andere, die überhaupt nicht zwischen (manchen) Anziehungsarten unterscheiden. Sie empfinden beispielsweise einfach nur “Anziehung”.
Das Konzept der verschiedenen Anziehung ist daher als Werkzeug für Menschen zu betrachten, die verschiedene Formen der Anziehung empfinden und diese für sich ausdifferenzieren und genauer betrachten oder differenzierter darüber sprechen wollen. Es soll nicht von außen auf andere Personen angewandt, ihnen aufgedrückt und/oder von ihnen erwartet werden.
So kann es sein, dass eine Person eine andere zwar romantisch anziehend findet, ihr gegenüber aber keine sexuelle Anziehung erlebt oder ein allosexueller aromantischer Mensch zwar sexuelle, aber keine romantische Anziehung empfindet. Die verschiedenen Anziehungsarten können dabei unterschiedlich stark, auf unterschiedliche Weise, in beliebiger Kombination, zusammenhängend oder voneinander unabhängig empfunden werden.
Manche Personen können dabei eine Vielzahl an Anziehungsformen benennen. Im deutschsprachigen Raum werden am häufigsten die folgenden fünf Anziehungsarten unterschieden:
Romantische Anziehung – Das Verlangen eine üblicherweise partner*innenschaftliche Verbindung mit einer Person einzugehen, die Elemente enthält, die gesellschaftlich und/oder persönlich als romantisch wahrgenommen werden. Häufig besteht der Wunsch nach als romantisch wahrgenommener Interaktion (beispielsweise sich zu beschenken, zu Dates zu gehen, eine romantische Beziehung einzugehen, zu heiraten und ähnliches). Häufig geht romantische Anziehung mit Verliebtheit einher, die auch als Crush bezeichnet wird.
Sexuelle Anziehung – Bewirkt das Verlangen der Person, auf die die Anziehung gerichtet ist, auf eine Art und Weise nahe zu sein, die von einem selbst als sexuell empfunden wird. Das plötzliche Auftreten starker sexueller Anziehung wird als Smush bezeichnet.
Sensuelle Anziehung – Beinhaltet das Verlangen einer Person auf einer körperlichen Ebene nahe zu sein, diese sensorisch zu erleben und (nicht als sexuell empfundene) Zärtlichkeit mit ihr auszutauschen. Diese Form der Anziehung ist weder sexueller noch romantischer Natur. Das Auftreten starker sensueller Anziehung wird als Lush bezeichnet.
Auch: Sinnliche oder sensorische Anziehung
Ästhetische Anziehung – Bewirkt das Verlangen eine Person zu betrachten oder zu bewundern, weil sie als ästhetisch ansprechend wahrgenommen wird (was nicht von gesellschaftlichen Standards in Bezug auf “schön” oder “hässlich” abhängig sein muss). Diese Form von Anziehung kann je nach Person von romantischer, sexueller und sensueller Anziehung unabhängig sein. Des Weiteren kann sie auch über den Sehsinn hinausgehen und den Geruchssinn oder den Gehörsinn beinhalten (wenn beispielsweise die Stimme einer Person schön gefunden wird). Das Auftreten starker ästhetischer Anziehung wird als Swish bezeichnet.
Platonische Anziehung – Das Bedürfnis eine enge (oder engere) platonsiche Beziehung/Kameradschaft/Bekanntschaft mit einem anderen Menschen einzugehen. Mitunter der Wille, Interessen und Erfahrungen zu teilen, oder eine sehr tiefe Lebensfreund*innenschaft einzugehen – jedoch ohne Einbeziehen romantischer Gefühle. Ein platonischer Crush wird auch Squish bezeichnet.
Für manche Menschen ist es hilfreich, noch weitere Anziehungsformen zu benennen. Diese werden aber weit weniger häufig verwendet. Für manche Personen ist es wichtig, ihr Empfinden oder Nicht-Empfinden einzelner Anziehungsformen zu labeln. Paralell zu den Worten aromantisch und asexuell haben sich deshalb auch Begriffe wie aplatonisch, asensuell oder aästhetisch entwickelt. Seltener wird auch die Ausrichtung der jeweiligen Anziehung genauer beschrieben. Dazu werden Begriffe wie pansensuell, homoästhetisch oder auch bidemiplatonisch verwendet.
Das Konzept der verschiedenen Anziehung wird (auch in der A*spec-Community) nicht von allen Personen verwendet und sollte daher nicht vorausgesetzt werden. Bei Personen, die ihre Anziehungen in unterschiedliche Formen differenzieren, wird manchmal von divergierenden Anziehungen gesprochen, während Personen, die Anziehung einfach als eine Einheit empfinden, ihr Erleben von Anziehung als konvergent beschreiben können. Des Weiteren gibt es Personen, die sich als Non-SAM-A*Specs (bzw. Non-SAM-Aces und Non-SAM-Aros) beschreiben, um ihrer Ablehnung des Konzeptes der verschiedenen Anziehungen Ausdruck zu verleihen.
Geschichte
Die Differenzierung in verschiedene Formen von Anziehung tauchte bereits im 19. Jahrhundert in den Büchern von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) auf. Ulrichs war einer der ersten Vorkämpfer für die Gleichstellung von homosexuellen Menschen und befasste sich in zwölf Büchern mit der Anziehung bei Menschen mit nicht-heterosexuellen Identitäten. Er unterteilt dabei Gefühle in Kategorien wie “zärtlich” und “leidenschaftlich” und beschreibt außerdem, dass Personen unterschiedliche Gefühle für verschiedene Geschlechter haben können.
1979 veröffentlichte die US-amerikanische Psychologin Dorothy Tennov das Buch Limerenz – über Liebe und Verliebtsein (eng. Love and Limerence: The Experience of Being in Love). Darin beschreibt sie “Limerenz” (starke Verliebtheit), als eine Art der Anziehung, die sexuelle Anziehung umfassen kann, aber nicht muss und sich mehr auf die emotionale Verbindung konzentriert. Tennov spricht dabei auch von “nicht-limerenten” Menschen, also solchen, die sich nicht verlieben. Ihr Buch ist damit nicht nur bis heute eine wichtige Grundlage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem (Nicht-)Verliebtsein, sondern auch die erste Quelle, die anerkennt, dass sich nicht alle Menschen automatisch irgendwann verlieben.
Die Diskussion über Anziehung wurde in den 1980er-Jahren von verschiedenen Autor*innen weitergeführt, wobei sich die Begriffe affektive Anziehung und affektive Orientierung durchsetzen, um zwischen sexueller und zärtlicher (oder romantischer) Liebe zu differenzieren. Die Konzepte romantischer Orientierung (oder Zuneigungsorientierung) wird in Bi*-Communitys und in der queerene Modellrechtssprechung als Nischenthema behandelt.
Bereits 2001 wurde anerkannt, dass einige asexuelle Menschen romantische Anziehungen empfinden und die Begriffe hetero-asexuell und bi-asexuell diskutiert. Im Jahr 2005 wurde auch der Begriff Aromantik vermehrt auf AVEN verwendet. Ungefähr zu dieser Zeit entstand auch das Konzept der verschiedenen Anziehungen in seiner aktuellen Form und wurde fortan vermehrt in A*spec-Communitys genutzt. Der weit verbreitete Begriff Modell der geteilten Anziehung (eng. split attraction model) entstand gegen 2015 auf Tumblr. Ursprünglich wurde die Bezeichnung wahrscheinlich von a*spec-feindlichen Menschen verwendet, die Personen auf dem A*spec aus der queeren Community ausschlossen und ihnen sowohl Queerfeindlichkeit vorwarfen als auch behaupteten, A*spec-Personen würden von allen anderen verlangen, ihre Anziehungen in unterschiedliche Arten zu differenzieren und das Konzept einer romantischen Orientierung zu verwenden. Der Begriff wurde jedoch von der A*spec-Community übernommen, um über die Differenzierung in Anziehungsformen zu sprechen.